INSTITUT FÜR SITZFORSCHUNG   (de|en) 


Peter Behrbohm

Forschungsstelle am Reileck
Händelstraße 1a, 06114 Halle (Saale)
gegründet in Halle, 2019

Bilder: René Langner, Claudia Mock, Sebastian Löffler & Ben Bischof


Das »Institut für Sitzforschung« nähert sich dem dialektischen Verhältnis von Produktion und Reproduktion über die »kritische Sessologie« und ist Herausgeberin der »Enzyklopädie des Spezialisierten Sitzens«.

Untersucht wird eine besessene Gesellschaft, die tagtäglich zwischen Arbeitsgeräten und Freizeitmaschinen rotiert - im hektischen Stuhltanz zwischen Sitzapparaten, die mal Lohn generieren, mal gemietet werden müssen oder beide Funktionen simultan erfüllen, um die zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Leben aus der Perspektive des Sitzens nachzuzeichnen.

In der Forschungsstelle am Reileck führt das Institut die visuelle Analyse und Taxonomie der regionalen Sitzpraktiken in Erarbeitung von »BESESSEN« - einer Enzyklopädie des spezialisierten Sitzens fort. Folgende Ausgaben sind auf der Website des Instituts erhältlich:

BESESSEN - ENZYKLOPÄDIE DES SPEZIALISIERTEN SITZENS
BAND 1 - EINHOCKEN

Website des Instituts


Forschungsbericht vom 09. Juni 2020, ausgestrahlt im Radio Coraxx
Forschungsbericht vom 23. Juni 2020, ausgestrahlt im Radio Coraxx

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  BESESSEN
Ansprache zur Einweihung des Instituts für Sitzforschung.


[...] Chefsessel, Strandkörbe, Cockpits, Home-Offices, Sofalandschaften, Webstühle, Kettenkarussells, Hocker, Parlamente, Omnibusse, Beichtstühle, Hollywoodschaukeln, Barhocker, Fischkutter, Flügel, Sitzblockaden, Gefängnismöbel, Gymnasikbälle, Handschuhkästen, Ansitzleitern, Kajaks, Kamelhocker, Baumstümpfe, Setzmaschinen, Melkschemel, Sessel, Pizzabotenmotorroller, Rasenmähtraktoren, Rollsitzgärtner, Couchgarnituren, Ruderergometer, Schlagzeuge, Wildschweinfelle, Zeichenmaschinen, Aufsitz-Töpferscheiben, Tretgeneratoren, Heckbagger, Beischlafsitze, die Reihenschnellsitzer der Deutschen Bahn, Rollbandkassen, Badewannen, Kompaktlader, Motorschirme mit Rucksackmotoren, Nicht-Steh-Restaurants, Bademeisterhochsitze, Bedienpulte, Aufsitz-Flügelglätter, Kommandobrücken, Bordsteine, Schaukelstühle, Wartezimmer, Freisichtstapler, Schiedsrichtersitze, Aufsitzwalzen, Pförtnerlogen, Kontrollräume, Fahrstühle, Massagesitze mit automatischer Shiatsupunkterkennung, Sitzbälle, Bällebäder, Küchenstühle, Schleudersitze, Rollstühle, Chirurgische Operationssitze, Sekretäre, Spezialfahrzeugsimulatoren, Gaming Chairs, Rüttelmaschine mit Münzeinwurf, hängende Tunnelinspektionsfahrzeuge, Elektrische Stühle, Tragchaisen, Schräglagentrainer, Schwimmsimulatoren, Schlitten, Flugzeuge, Liegestühle, Hantelbänke, Bräunungsliegen, Seziertische, Deckchairs, Schaukelstühle, Rückentrainer, Parkbänke, Beichtstühle, Schneidersitze, Table-Dance Kombinationssitzer, Freisitze, Schaukeln, Klavierhocker, Hämoridenringe, Baukrankanzeln, Toilettendeckel, [...] 

die Liste ist lang und hängt aus. Tragen Sie sich jederzeit gern ein!

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Sehr geehrte Damen und Herren,

Von allen Körperteilen ist eines am vernachlässigsten, weil es sich stets außerhalb des Sichtfelds befindet. Aus Scham wird es gemeinhin mit vier Buchstaben bezeichnet:  «P-O-P-O». Geht jene Partie auf der Rückseite des menschlichen Körpers zwischen Oberschenkeln und Rücken auf «Tuchfühlung» mit einem Gegenstand, so  sprechen wir vom Sitzen. Um die Erforschung dieser Tätigkeit geht es hier und da bislang keine wissenschaftliche Betrachtung stattfand, habe ich alles daran gesetzt, diese Lücke in der Wissensproduktion - ein fürstliches Desiderat - mit Wissen zu füllen um dabei sprichwörtlich den «Arsch der Welt» zu erkunden.

Liebe Sitzerinnen und Unsitzer.
Es freut mich, dass Sie sich an diesem heißen staubigen (und nun auch nassen) Tag in Halle an der Saale eingefunden haben. Seit den 60er Jahren steht hier am Reileck ein »K600« Zeitschriftenkiosk. Ein Ein-Personen-Arbeitsort, der erst der Sitz von Herrn Fleischer und anschließend der des gleichnamigen Kunstvereins wurde. Dem Verein möchte ich an dieser Stelle meinen ergebenen Dank aussprechen, Annegret Frauenlob, Petra Reichenbach, Rita Lass, Jan Ermentraut und vielen weiteren, doch dazu später mehr.

Dieser ehemalige «K600» ist nicht nur ein Kiosk, sondern zuallererst ein  s~EH+KSK bedacht, beleuchtet, bestauraumter «1-Still-Einhocker,  inkrementell». „Still“, weil er sich nicht bewegt, „ein“, weil er für eine Person konzipiert ist, „hocker“, weil man hier im Sitzen arbeitet - also ein Einsitzer und da Herr Fleischers Schemel - auf dem ich gerade sitze - keine Lehne hat - ein einhockender Einsitzer. Zu guter letzt „inkrementell“, weil der Still-Einhocker s~EH+KSK dem Hockenden beim Hocken einen Lohn generiert.


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Sie sehen - das Sitzen ist durchaus eine ernste Angelegenheit und es ist erstaunlich, dass sie, obwohl es mitllerweile die mit Abstand am meisten ausgeübte Tätigkeit des Menschen ist,

sich bisher einer systematischen Betrachtung entzogen hat. Morgens klingelt Ihr Wecker. Aufgestanden, hingehockt zu Kaffee und Morgentoilette, springen Sie auf den Fahrradsattel, setzen sich in Auto oder Bahn, drehen Ihre Runden auf dem Bürostuhl, eilen sitzend nach Hause, und nachem Sie zu Abend gesessen haben, fläzen Sie sich noch lange zur Entspannung in der Couchgarnitur oder setzen sich in eine Bar.

Es freut mich, dass sie alle Platz genommen haben, (Winken!) uns folgen auch einige Sitzer daheim an den Mobilendgeräten, denn hiermit möchte ich Ihnen und der Fachwelt     feierlich die Gründung einer Institution bekannt geben.

Das Institut für Sitzforschung wird sich dem dialektischen Verhältnis von Produktion und Reproduktion über die kritische Sessologie nähern.

Untersucht wird eine besessene Gesellschaft, die tagtäglich zwischen Arbeitsgeräten und Freizeitmaschinen rotiert - im hektischen Stuhltanz zwischen Sitzapparaten, die mal Lohn generieren, mal gemietet werden müssen oder beide Funktionen simultan erfüllen, um die zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Leben aus der Perspektive des Sitzens nachzuzeichnen.

In der Forschungsstelle am Reileck hat das  Institut bereits in den vergangenen vier Wochen die visuelle Analyse und Taxonomie der regionalen Sitzpraktiken in Erarbeitung einer Enzyklopädie des spezialisierten Sitzens fortgeführt. Heute nun bin ich stolz, die ersten Forschungsergebnisse des Institut vorzuführen.


 


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Mit «EINHOCKEN», publiziert das Institut heute den ersten Band seiner »Enzyklopädie». Das Buch wurde hier gezeichnet, am Risograph des Instituts in einer Auflage von 43 Stück gedruckt und kann heute zu einem Vorzugspreis von 35€ erworben  werden. Ebenfalls erhältlich ist die aktuelle Faltkarte des spezialisierten Sitzens. Der weitere Forschungsstand kann an den Schaufenstern verfolgt werden.

Ich bin zu großem Dank verplichtet:

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Tatkräftige Unterstützung von Claudia Mock, Annegret Frauenlob, Petra und Sebastian Reichenbach, Anton Steenbock, Sebastian Löffler, Jan Ermentraut, dem Hr.Fleischer e.V., Rita Lass, Carola und Gregor Behrbohm, Michel Gutzeit, Johanna Frahm, Friede Clausz, Alicia Monreal, Yvette Cruz, Annika Hasenpusch, Niklas Wacker, Thomas, Alma, Paula, Dirk, Rosa, Timmi, Anna, Franz, Camen, Charlotte, Simon, Frank, Vinc, Linn, Ines, Karlo, Rese, Michael und viele weitere Interessierte, die unzählige Vorschläge für Sitzobjekte und -praktiken an das Institut herantrugen.

Stoßen wir gemeinsam an, auf das Sitzen und auf uns, die Besessenen.

Prost!


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